Es gibt keine Flüchtlingskrise

Es gibt auch keine „Wirtschaftskrise“, keine „Sinnkrise“ der Menschheit und keine „Künstliche-Intelligenz-Krise“. Das sind Schlagwörter, die der Komplexität des Zusammenlebens nicht gerecht werden. Was es gibt, sind „Kommunikations-probleme“. Und hier augenscheinlich vor allem zwischen den Generationen. Die Kriege in Nahost werden von alten Männern geführt, deren patriarchischen Vorteile zu schwinden drohen angesichts des Wunsches der Jugend nach Selbstbestimmung. Die Konsumflut in China wird von einem Zentralrat gepuscht, der überwiegend aus Männern besteht, die längst in Rente sein sollten, um ihre Enkel auf dem Schoß zu wippen. In Russland besteht für junge Menschen kaum eine Perspektive. Viele wandern aus.

Und auch die Jugend im Westen hat den Kontakt zu der älteren Generation verloren. Schlägt man eine Zeitung auf, dann liest man von dem Kommen eines Sirenen-alarms.  Von Feuerwehrübungen und Chören, die in Kirchen singen. Das Internet und die sozialen Medien kommen überhaupt nicht vor. Über Transition Town, Tauschringe, Solidarische Landwirtschaft, Anonymous, Attac, Occupy, Mehr Demokratie e. V., Wikileaks, die BGE-Bewegung, Gemeinwohlökonomie, Piraten, Veganer und auch „Die Violetten“  liest man höchstens mal eine Kurzmeldung. Was junge Menschen von heutzutage interessiert, existiert auch in den Fernsehnach-richten kaum. Und dann wird sich beklagt, dass die Einnahmen sinken und junge Menschen sich angeblich nicht für Politik interessieren. Dabei wäre es die Informationspflicht von Zeitungen, auf die Veranstaltungen von Vereinen und Parteien hinzuweisen, die sich der Organisation und Entwicklung der Gemeinschaft verschrieben haben.

Der Gesellschaftsvertrag, den Rousseau einst formulierte und der in der Bismarck‘schen Sozialgesetzgebung seinen konkreten Ausdruck fand, funktioniert nicht mehr. Was bisher nur in Amerika existierte, greift auf die gesamte Welt, auch auf Europa über. Die Zweiklassengesellschaft, in der es sich nur noch die obere Hälfte leisten kann, am Informations- und Kulturbetrieb teilzunehmen. Dem Rest wird unterstellt, nicht leistungsstark genug zu sein, und er muss von den Zusatzzahlungen des Staates, Armenküchen und abfallenden Almosen sein Leben bestreiten.

Die letzten dreißig Jahre haben enorme Änderungen im Zusammenleben gebracht. Die Erfindung des Computers hat völlig neue Arbeitsbilder geschaffen. Industrieroboter werden bald in allen Gesellschaftsbereichen bessere Arbeit verrichten als der Mensch. Als Putzdienst, als Kassierer, als Lokführer, an der Werkbank sowieso, aber auch im Bereich der Medizin, des Controllings, der Beratung und vielen anderen Dingen, die bisher allein von Menschen erledigt werden konnten. Vom an sich positiven Ziel der Vollbeschäftigung entfernen wir uns immer weiter.

Viele Menschen sind aus den daraus folgenden Anpassungsprozessen vom sozialen Leben abgehängt worden. Finanzspekulationen führen zu Verwerfungen auf den Kapitalmärkten und zur Verunsicherung der Sparer. Konzerne verklagen Staaten in geheim tagenden Gerichten,  separate Kampfeinheiten führen militärische Aufträge durch,  ohne dass dies durch demokratische Gremien kontrollierbar ist. Neben Burnout, Depressionen und Medikamentenabhängigkeit haben viele Menschen Schwierigkeiten, sich mit dem Sinn ihrer Arbeit und damit ihres Daseins zu identifizieren.

Jean-Jacques Rousseau hatte in seinem Entwurf eines Gesellschaftsvertrages vor 250 Jahren gefordert, dass alle Menschen gleichberechtigt und gleichverantwortlich unter Regeln zusammen leben, die sie sich selbst gegeben haben. Als Souverän sind sie nur dem Staat gegenüber Rechenschaft schuldig, der wiederum als Institution dem Volkssouverän untersteht, welches heute die Weltgesellschaft ist. Auch andere Formen von Zusammenschlüssen (Unternehmen, Parteien, Genossenschaften usw.) sind Teil dieses Souveräns.

Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, der allen Menschen, auch arbeitslosen und staatenlosen, ein Leben in Würde ermöglicht. Dieser neue Vertrag ist auch notwendig, weil das Modell der Großfamilie, die Jahrtausende lang die Grundlage der menschlichen Zuflucht war, nicht mehr existiert. Nationalstaaten haben zunehmend Mühe, die Aufgabe der Großfamilie zu ersetzen und die Rechte der Bürger zu schützen. Der Mensch ist umso mehr auf die Wahrung seiner Grundrechte angewiesen, als ihm der Schutz fehlt.

Es gilt, soziale Netzwerke in ihrem Bemühen um Vorsorge zu unterstützen. Es geht darum, Arbeit und Einkommen voneinander zu trennen und jedem Menschen ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Es geht darum, zu einer gerechten Verteilung der Ressourcen und der Arbeit (max. 35 Stunden-Woche) weltweit zu gelangen. Dazu braucht es nicht nur verbindliche Regeln für das Zusammenleben in der Gemeinschaft, sondern auch offene Räume zur Entfaltung, in denen sich neue Gesellschaftsmodelle entwickeln können. Besonders wichtig erscheinen:

  • Schutz von Bürgerrechten, Daten und Gemeinwohl (Wasser, Energie, Boden)
  • Garantie einer Grundversorgung für jeden Menschen auf der Welt
  • Ein stabiles, dezentrales Geldsystem, das jedem gleichen Zugriff erlaubt
  • Stärkung regionaler Initiativen, Mitbestimmung bei Großprojekten
  • Bewahrung der Umwelt für die kommenden Generationen
  • Geschützte, nicht kommerzielle Open-Source-Bereiche im Internet

In einer Formel:

Jeder Mensch hat das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, ausgezahlt in lokaler Währung. Gleichzeitig hat er die Pflicht, die Ressourcen des Planeten als lebenden Organismus zu erhalten und lokale, soziale Strukturen zu fördern.

Ein weltweit geltender neuer Gesellschaftsvertrag bedeutet nicht ein Weltgesetz. Regeln müssen situationsbedingt zwischen Menschen immer wieder neu verhandelt werden. Der Gesellschaftsvertrag definiert nur den Bürger als Souverän und den Schutz seiner Rechte und seiner Intimsphäre als Grundlage des Zusammenlebens. Den Schutz des Eigentums kann nur ein funktionierender Rechtsstaat garantieren.  Volkswirtschaften können nur florieren, wenn Privatpersonen Innovationen umsetzen können. Ein Mindeststeuersatz weltweit auf alle Unternehmer und Privatpersonen und ein weltweiter gesetzlicher Mindestlohn sollen Kapitalflucht verhindern und fairen Wettbewerb innerhalb geltender Gesetze weltweit ermöglichen.

Jede Weltgegend hat eine andere Organisationsform für sich gewählt. China, Russland, Indien, der Ferne Osten, Nordamerika, Südamerika, Europa, Afrika und die arabische Welt haben unterschiedlich gewachsene politische Strukturen und Organisationsformen; doch alle diese Staatenbündnisse dienen nach wie vor dem Schutz des Menschen und der Umwelt und der Bewahrung einer historisch gewachsenen Werteordnung, die sich durch Bekenntnis zu einer Religion und entsprechenden Werten ausdrückt. Bekenntnisse, die es gegenseitig  zu respektieren gilt.

Andreas Bleeck

 

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Eine Antwort zu Es gibt keine Flüchtlingskrise

  1. Berücksichtigt man den geschichtlichen Werdegang, versteht Kapitalismus als Prozess und rückt die Krisenursachen in den Fokus, ergibt sich daraus, dass sich die Funktionsfähigkeit des bürgerlichen Staates heute nicht mehr anrufen lässt, als Quell und Garant von Stabilität. Er ist vielmehr Bestandteil des Problems, dient der Menschenverwaltung, die sich im Gewaltmonopol und in Bürokratie ausdrückt. DAS gehört zum Kern der genannten “Organisationsformen”, der allen aufgezählten Ländern und Weltregionen gemeinsam ist.

    Es gibt ganz sicher (auch) ein Kommunikationsproblem. Keine Frage. Damit lassen sich aber die anderen Krisenerscheinungen nicht hinweg reden, was in diesem Beitrag leider der Grundtenor ist, anstatt sich die Ursachen und das Wesen hinter den äußeren Erscheinungen anzusehen.
    —————————–
    Der Vergleich bringt einen da weiter – z.B. von Herbert Böttcher: “Mit Ausgrenzungsimperialismus und Ausnahmezustand gegen Flüchtlinge”
    http://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=1&posnr=661

    Wer Zweifel an der Wirtschaftskrise hat und ausblendet, wie es in vielen Weltregionen an den Rändern der kapitalistischen Zentralstaaten aussieht, dem sei z.B. dieses Buch empfohlen:
    Gerd Bedszent: “Zusammenbruch der Peripherie”
    http://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=aktuelles&index=30&posnr=628&backtext1=text1.php

    …sowie die Bücher des Osteuropa-Kenners Tomasz Konicz wie z.B. “Kapitalkollaps”
    http://www.hh-violette.de/vortrag-inn-hamburg/

    …oder mal was über den afrikanischen Kontinent und den Welthunger, z.B. Jean Ziegler mit “Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt” oder “Imperium der Schande”

    Der Kapitalismus, also gerade das Zusammenspiel von Markt und Staat, produziert Hunger, Obdachlosigkeit, Armut, Not und Terror ebenso wie Autos, Smartphones und Sahnetörtchen.

    Auf dieser Basis erscheint ein “neuer Gesellschaftsvertrag” zeitgeschichtlich unmöglich geworden. Die Entwicklungsrichtung nach der Logik des Kapitals ist dafür längst zu destruktiv geworden. Man kann dieser Art Gesellschaft nicht mit Ethik und Moral beikommen, denn darauf baut sie leider nicht auf. Die gegenwärtig in Politik und Staat vorherrschende Denkweise ist der Neoliberalismus. Der zeichnet sich durch eine hartnäckige Ignoranz gegenüber Fakten und Kausalitäten aus. Er hat den Schritt von der Ideologie zur Idiotie längst überschritten.

    Deshalb mündet die Politik tendenziell in vielen abgehängten Weltregionen, auch in Krieg. Die Globalisierungsverlierer unter den Nationalstaaten scheitern am Versuch einer erfolgreichen Modernisierung, die der Westen im 20. Jahrhunderts noch halbwegs (wenn man die Krisenschäden abzieht) erfolgreich gestalten konnte. Hinzu kommen Länder mit offenen Gewaltsysteme, die sich nicht mal mehr an die Globalisierung anschließen lassen, da sie schlichtweg dafür nicht gebraucht werden.

    Die Fragen müssten also lauten: Was kann das weltweit wachsende Heer der Überflüssigen selbst und jenseits all dessen tun? Wieviel Spielraum gibt es dafür überhaupt noch? Wieviel Zeit bleibt dafür noch? Oder trachten alle nur danach, sich selbst in das bestehende kapitalistische System erfolgreich durch Verkauf der Ware Arbeitskraft eingliedern zu wollen? Finden wir einen Weg, endlich die Grundkategorien des Kapitalismus in Frage zu stellen? …und schließlich – wie kann man parallel zu allem (auch) politisch Druck auf die Staaten und Regierungen auszuüben, diese emanzipatorischen Ansätze wenigstens nicht zu torpedieren? Wenn kleinere Verträge dabei temporär helfen, ist das sicher eine helfende Möglichkeit.

    Ein großer, gesamtgesellschaftlich „neuer Gesellschaftsvertrag“ hingegen wäre nur denkbar, wenn sich die vorherrschende Denkweise in den Chefetagen der Wirtschaft und in den Staatsführungen ebenfalls grundlegend ändert. Davon ist gegenwärtig nicht auszugehen. Zu beobachten ist das Gegenteil – rechte, extremistische Bewegungen, die noch mehr praktizierte Staatsgewalt, sowie Trennung und Ausgrenzung von Menschen verlangen. Mit Vertretern so einer Geisteshaltung verbieten sich Verträge von selbst, da sie nur den Charakter von Scheinverträgen hätten, die bei nächster Gelegenheit gebrochen werden. Das sollte wir aus der Geschichte gelernt haben.

    Holger Roloff
    Die Violetten Hamburg, 11.Dezember 2016

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