Charta für ein Europa der Regionen – Wiederbelebung des menschlichen Maßes und politischer Kultur *

„Das Ende der Großen – zurück zum menschlichen Maß“ (The Breakdown of Nations) beschrieb Leopold Kohr schon 1957 und Ernst Friedrich Schumacher komplettierte 1973 mit „Small is beautiful“. Im September 2012 drei Tage nach der unglücklichen ESM-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sagte dessen vormaliger Präsident Prof. Hans-Jürgen Papier in einem TV-Interview: „Wirkliche, vitale Demokratie funktioniert am besten in kleinen, überschaubaren Einheiten.“ Diese drei Zitate weisen exemplarisch auf die Tatsache hin, dass alle Imperien und Großreiche in der Geschichte ausnahmslos untergingen. Ab einer gewissen Machtkonzentration steht trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht mehr das Wohl des Ganzen im Fokus des Interesses, sondern nur noch der Erhalt und die Ausweitung des erreichten Status der herrschenden Eliten.

Aktuell sind davon nicht nur Staaten wie die USA, China, Russland oder die EU betroffen, sondern auch Konzerne, ökonomische Riesen, die mit ihrer materiellen Macht alles, was ihren Interessen entgegensteht, entweder vereinnahmen oder zerstören. Demokratische Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und freiheitliche Bürgerrechte sind durch diese Entwicklung akut gefährdet, wie z.B. das beabsichtigte Freihandelsabkommen TTIP mit seinen Regelungen zum Investitionsschutz zeigt. Was in früheren Zeiten die Sphäre von Freiheit und Demokratie war, entwickelt sich zunehmend zu einem kalten, rein an ökonomischen Interessen ausgerichteten, totalitären System, bei dem der Mensch und die Menschlichkeit letztlich auf der Strecke bleiben. Das Eigentumsrecht steht heute über dem Lebensrecht.

Einzige Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist es, die eigenen Angelegenheiten vor Ort selbstbestimmt und selbstorganisiert in die Hand zu nehmen, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Organisationseinheiten zu schaffen, die klein und überschaubar genug sind, um allen die Teilhabe zu ermöglichen und das vorhandene Potenzial der Beteiligten und Betroffenen optimal zum Wohl und Nutzen aller zur Verfügung zu halten. Die Lösung auf allen Ebenen, ob politisch, ökonomisch oder kulturell, insbesondere auch bei der Daseinsvorsorge wie der Wasser- und Energieversorgung kann also nur lauten: Dezentralisierung und Regionalisierung, umfassende Kooperation durch föderale Strukturen und global koordinierter Ressourcenverbrauch.

Die ‚Charta für ein Europa der Regionen – Wege zur Selbstbestimmung auf freiheitlicher und demokratischer Grundlage‘ skizziert dazu mögliche Wege.

Wie gelangen wir zu derartigen Strukturen? Kurz gesagt durch die strikte Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Die Charta geht von überschaubaren Basisgemeinschaften aus als den Grundeinheiten des poli-tischen Willensbildungsprozesses. Diese Basisgemeinschaften entsenden je eine Frau und einen Mann aus ihrer Mitte mit einem gebundenen Mandat in die Entscheidungsgremien der nächstgrößeren Einheit z.B. den Gemeinderat. Die Delegierten dürfen nicht vom Auftrag der sie entsendenden Basis ohne Rücksprache abweichen. Dieses Prinzip setzt sich fort über den Kreisrat bis hin zum Regionalparlament. Die Regionen sollen die gleichen Souveränitätsrechte erhalten wie die meist viel zu großen Nationalstaaten. Es ist leicht nachvollziehbar, dass in Regionen die eigenen Potenziale wie auch die Defizite am besten eingeschätzt und die daraus notwendigen Schritte und Kooperationen auf den Weg gebracht werden können. Die technischen Möglichkeiten der globalen Vernetzung erleichtern die Bewältigung einer solchen Aufgabenstellung.

Die souveränen Regionen können sich in Regional-, Kultur- oder Territorialföderationen zusammenschließen bis hin zur Europäischen Föderation. Je größer die Ebene, umso weniger Entscheidungsbefugnis haben die Gremien. Hier steht die Aufgabe der Mediation, des Ausgleichs zwischen den unterschiedlichen regionalen Interessen zum größtmöglichen gemeinsamen Nutzen im Vordergrund.

Darüber hinaus ist aber auch ein verändertes Bewusstsein erforderlich, das den Ernst der globalen Bedrohungen durch Wachstumswahn, Umweltzerstörung, Klimawandel, Artensterben, Ressourcenausbeutung und -verschwendung etc. wahrnimmt und die Verbundenheit und Gleichwertigkeit aller Erdbewohner vorbehaltlos anerkennt. Dies verlangt von einer großen Zahl von Menschen ein erhöhtes Maß an Bewusstheit und Achtsamkeit, ja eine ausgeprägte Liebe zu all den vielfältigen Ausdrucksformen des Lebens inklusive des gesamten Organismus Erde. Die Zahl derer, die auf einem derartigen Erkenntnisniveau ankommen, wächst erfreulicherweise weltweit wie die Vielfalt an alternativen Lebens- und Gemeinschaftsentwürfen zeigt. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung und Selbstorganisation in kooperativer Gemeinschaft und sie wird zurecht von Menschen in allen Teilen der Welt zunehmend vehement eingefordert.

Markus Benz 

*  Charta für ein Europa der Regionen  (Komplette Version – Stand 2013)

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